BR Lebenslinien, Dokumentation, 45 min
BR, Montag, 30. März 2020 um 22 Uhr
Als Sohn türkischer Gastarbeiter in München wächst Erkan Inan bei einer bayerischen Pflegemutter in Reichertshofen in der Hallertau auf. Seine ersten sechs Lebensjahre sind geprägt von Kirchenglocken, Apfelstrudel, Schwammerln suchen, Lederhosen und Blasmusik. Vor dem Zubettgehen bespritzt ihn seine Pflegemutter, von Erkan liebevoll Omi genannt, mit Weihwasser. Erkan spricht perfekt bayerisch, türkisch kann er nicht. Seine Eltern sieht er nur manchmal am Wochenende, wenn sie gerade nicht Schicht arbeiteten. Eines Tages aber stehen sie vor der Tür und nehmen ihn mit – ein Schock für den Sechsjährigen. Der zweite Schock kommt kurz danach, als seine Eltern ihn in die Türkei bringen wollen, damit aus ihm nun endlich ein Türke werde. Auf der Reise dorthin erleidet Erkan einen Nervenzusammenbruch und die Eltern, überfordert mit der Situation, behalten ihn doch in München. Sie schreiben ihn auf eine türkische Schule ein, doch weil er kaum türkisch spricht, schickt man ihn auf eine Sonderschule. Er sei „lernbehindert“ heißt es. Nur mit viel Willenskraft und einer guten Lehrerin schafft er es, sich von diesem negativen Stempel des dummen und noch dazu ausländischen Förderkinds zu befreien. Er schafft den Hauptschulabschluss, macht eine Ausbildung zum Speditionskaufmann und arbeitet heute in einem Fuhrunternehmen.
In seiner Brust schlagen zwei Herzen – ein bayerisches und ein türkisches, sagt Erkan Inan. Der 43jährige will sich nicht für eine Welt, für eine Kultur entscheiden müssen. Seit Jahren engagiert sich Erkan in der muslimischen Vereinslandschaft in München, er ist Mitglied des Münchner Forums für Islam, sitzt im Münchner Migrationsbeirat und organisiert die Veranstaltungen „Kritisch Denken“ sowie das Kunstfestival AusARTen. Gleichwertigkeit, Offenheit und Toleranz, dafür setzt sich Erkan ein – deshalb hat er auch vor kurzem, mit Anita Kaminski von der Israelitischen Kultusgemeinde, einen privaten muslimisch-jüdischen Stammtisch ins Leben gerufen. Als türkischer Münchner oder als bayerischer Türke fühlt sich Erkan heute, und als Gastgeber – und nicht mehr nur als geduldeter Gast: „Fremd bin ich nur dann, wenn mich andere zum Fremden machen.“
Wir erzählen eine außergewöhnliche und gelungene Integrationsgeschichte aus der Perspektive eines Mannes, der sich als Kind mehr „Bayerisch“ fühlte als türkisch, wie er selbst sagt. Ein Mann, der sich sowohl in der bayerischen als auch der türkisch-muslimischen Welt selbstverständlich bewegt und seinen Blick nicht auf die Barrieren sondern auf Begegnungen lenkt. Zum einen will Inan in München etwas bewirken, einer Stadt, in der über 40% der Menschen einen Migrationshintergrund haben. Zum anderen lebt er die Symbiose der Kulturen auch daheim: Seine Frau ist Türkin und trägt Kopftuch, er selbst bezeichnet sich als bayerischer Türke und wünscht sich, dass sich auch seine drei Kinder in beiden Welten zuhause fühlen.